Warum die Teil-Ausschreibung der S-Bahn Berlin die Probleme verschlimmert

Berlin, den 18.04.2013. Von Carl Waßmuth/GiB.

Mit der Ausschreibung gab der Berliner Senat an, auf die seit 2008 andauernde Krise der Berliner S-Bahn reagieren zu wollen. Allerdings stellt diese Ausschreibung, die Privatisierungsfolgen zu beheben vorgibt, selbst eine massive Privatisierung dar. Dabei weisen die neuen Privatisierungsbestrebungen auf dem Wege der Teil-Ausschreibung noch deutlich stärkere Parallelen zur Bahnprivatisierung in Großbritannien auf als der 2008 abgesagte Börsengang der DB AG. Die Ausschreibung wird zudem eine Form von „Public Private Partnership“ (PPP) darstellen, eine Privatisierungsform, die zuletzt massiv in die Kritik geraten ist. Gleichzeitig widerspricht die Teilausschreibung gleich mehrfach Beschlüssen des SPD-Landesparteitags und auch einem aktuellen Beschluss der SPD-Bundestagsfraktion: Dort wird die Bahnprivatisierung ebenso abgelehnt wie die Trennung von Netz und Betrieb. Letzteres fordert nicht einmal die in diesen Fragen stets neoliberale EU-Kommission.

SPD-Beschlüsse: keine Bahnprivatisierung!

Auf dem Berliner SPD-Landesparteitag am 9.6.2012 spielte die S-Bahn eine große Rolle. Ein Antrag wurde verabschiedet, der die konkrete Vorbereitung der S-Bahn als kommunalen Unternehmen fordert [1]. Noch weiter geht der Antrag des Fachausschusses Mobilität: „Die Infrastrukturbereiche der Eisenbahnen des Bundes sind ausschließlich auf das Gemeinwohl und die Daseinsvorsorge zu orientieren. […]  Regionale und lokale Eisenbahninfrastruktur (z.B. S-Bahnen) wird ohne Entschädigung in das Eigentum und die Verantwortung der Länder bzw. Regionen oder von Ihnen gebildeter Institutionen übergehen.“

Im gleichen Antrag wird auch noch einmal die Ablehnung eines Börsengangs der DB AG bekräftigt. Die SPD-Bundestagsfraktion bestätigt das: „Auch kommt für uns keine Privatisierung der DB AG in Frage.“ [2] Auch wenn die Privatisierung der DB AG und die Privatisierung per Teilausschreibung nicht dasselbe ist, die Gründe für die Ablehnung sind identisch: Im empfindlichen Bereich der Daseinsvorsorge hat Privatisierung fatale Folgen.

Trennung von Netz und Betrieb

Auch die Trennung von Netz und Betrieb wird von der SPD-Bundestagsfraktion abgelehnt: „Eine Trennung von Netz und Betrieb schließen wir aus, da wir die DB AG als integrierten Konzern erhalten wollen. Wir begrüßen, dass nunmehr die Europäische Kommission von ihrer Absicht abgerückt ist, eine solche Trennung im Rahmen des Vierten Eisenbahnpakets vorzuschreiben.“
Für die Ablehnung einer Trennung gibt es gute Gründe, auch solche, die über die Betrachtung der DB AG hinausgehen. Zum einen ist es eine Sollbruchstelle für Privatisierungen. Aber auch aus technischer Sicht ist bekannt: Schieneninfrastruktur und der darauf laufende Betrieb sind vielfältig miteinander verzahnt. Es gibt kein Land der Welt, in dem eine solche Trennung zu einem Wachstum des Schienenanteils, geschweige denn zu geringeren Kosten für die Steuerzahlenden geführt hat. Großbritannien, in dem die Trennung wichtiger Bestandteil der Privatisierung war, ist auf der Länder-Liste der mit hohen erforderlichen öffentlichen Zuschüssen pro Personen-Schienenkilometer Spitzenreiter. Die Festlegung auf die Teilausschreibung und damit auf die Trennung erfolgte in Berlin, als das sogenannte Vierte Eisenbahn-Paket in Europa diskutiert wurde, in dem eine Trennung vorgesehen war. Problem für die ganz Schnellen im Berliner Senat ist nun: Dieses Vierte Eisenbahn-Paket ist bei der EU-Kommission inzwischen durchgefallen – man war also vorschnell. Es ist aber noch Zeit, sich zu korrigieren. Am 9.4.2013 wurde das Interessenbekundungsverfahren zur S-Bahn Berlin aufgrund Ausschreibungsfehlern neu gestartet. Die eigentliche Ausschreibung startet nicht vor dem 11. Juni 2013.

Die Teilausschreibung der S-Bahn Berlin folgt eng dem Prinzip der britischen Bahnprivatisierung

Es gibt wenigstens drei zentrale Parallelen:

1. Ein Teil des Netzes soll vom Betrieb abgetrennt werden, siehe oben. Brisant ist dabei auch: Die abgetrennte Infrastruktur bleibt bei der DB AG, von der wiederum laut Bundestagsbeschluss 2008 jederzeit 25% veräußert werden können. In Großbritannien wurde das Netz an die börsennotierte Rail Track abgegeben, die zwischen 2002 und 2008 wieder liquidiert wurde. Rail Track hatte das Schienennetz völlig verrotten lassen, die Grundsanierung dauerte Jahre und kostete Dutzende Milliarden Euro. In der Zeit der Wiederherstellung war der Betrieb baubedingt vielfach enorm eingeschränkt.

2. Die Wagen gehen an eine eigene Organisation. Hierbei besteht insbesondere die Gefahr, dass sie nach der ersten Betriebsphase nach 15 Jahren an einen dritten Betreiber gehen, der dann nur noch als Vermieter auftritt. In Großbritannien begann der Privatsierungsprozess mit der Ausgründung und dem schnell folgenden Ausverkauf des dort in Rolling Stock Companies, „ROSCOs“ zusammengefassten Wagenmaterials. Eine britische Studie des house of commons zu den ROSCOs zeigt auf, dass dort Milliarden Pfund aus dem System an reine Kapitalanleger (darunter die Bank Of Scotland) abwandern, ohne zu Reinvestitionen zu führen. Das britische Wagenmaterial ist völlig überaltert, teilweise über 40 Jahre alt und fast schrottreif. Hochgeschwindigkeitszüge (ICE, TGV) oder vergleichbare relevante Neuentwicklungen gibt es nicht.

3. Der Betrieb wird durch die Ausschreibung aufgeteilt, zunächst in zwei Teile. In Großbritannien erfolgte die Aufteilung landesweit in zahlreiche einzelne Organisationseinheiten, viele in durchaus vergleichbarer Größe wie der jetzt ausgeschriebene Teil der S-Bahn Berlin. Die Folgen der gesamten Entwicklung waren in Großbritannien:

  • Massiver Infrastrukturverfall, da noch nicht mal ein betriebliches Interesse mehr am Erhalt Bestand
  • Eine enorme Fahrplanzerstückelung
  • Die Verantwortlichkeiten verschwanden in den Schnittstellen zwischen den Betreibern, der Aufsichtsbehörde und den Gerichten
  • Fahrpreissteigerungen bei gleichzeitig schlechterer Leistungserbringung und höherer Unterstützung über Steuergelder
  • Zuletzt eine Unfallserie mit zahlreichen Todesopfern, aber auch schwerste Eisenbahnunfälle, die nur durch viel Glück wenige Verletzte forderten

Die Ausschreibung ist eine Form von Public Private Partnership

Im Positionspapier „Berlin – Stadt des Aufstiegs“ beziehen die drei Spitzenmänner der Berliner SPD Saleh, Stöß und Wowereit Position gegen Public Private Partnerships (PPPs). Die bisher geplante S-Bahn-Ausschreibung enthält jedoch zentrale Elemente, die den Vorgang als PPP-Projekt ausweisen. Ein Privater soll in einem langlaufenden Vertrag anstelle der öffentlichen Hand Investitionen vornehmen, die bis auf einen geringen Eigenkapitalanteil fremdfinanziert sind. Das Land Berlin mietet dann Wagen zurück und zahlt zusätzlich ein Vielfaches der Investitionssumme für den Betrieb über den Vertragszeitraum. Mit der Konstruktion umgeht Berlin PPP-typisch die Schuldenbremse. Der PPP-Charakter des Projektes wurde bisher nicht explizit gemacht. Es fehlen sogar einige bei PPP übliche (und zweifellos unzureichende) Mindeststandards:

  • Es gab keine Wirtschaftlichkeitsuntersuchung, ob eine Beschaffung des Wagenmaterials durch die öffentliche Hand günstiger ist. Ein Privater beschafft die Wagen auf Kredit. Seine Kreditzinsen sind viel höher als die der öffentliche Hand. Laut einer Untersuchung des britischen Unterhauses aus 2011 beträgt das Kostenverhältnis in der Finanzierung 1:1,7 [3].
  • Remmanenzkosten wurden nicht betrachtet. Welche Kosten entstehen der DB AG weiterhin, die das 100% bundeseigenes Unternehmen den Steuerzahlenden anlasten kann?
  • Um Eventualitäten für 30 Jahre zu antizipieren, wird ein großes Vertragswerk benötigt. Für den 70-km-Autobahnabschnitt auf der A1 umfasste der Vertrag 36.000 Seiten, für die Lkw-Mauterhebung 17.000 Seiten. Die Kosten für die Entwicklung und Überwachung eines vergleichbaren Vertragswerks für die S-Bahn Berlin werden erheblich sein, sicherlich dutzende Millionen Euro. Auch diese Summe und ihre Unwägbarkeiten wurden noch nirgendwo im Sinne der Volkswirtschaft oder der Bürgerinne und Bürger kalkuliert.
  • Die Investoren in die Wagen können gegebenenfalls durch ihr finanzielles Engagement Steuern sparen. Diese Kosten wären von dem volkswirtschaftlichen Nutzen abzuziehen.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass eine Kosten-Nutzen-Analyse fehlt. Damit sind nicht die üblichen von privaten Beraterfirmen erstellten Wirtschaftlichkeitsgutachten gemeint, denen von den Rechnungshöfen des Bundes und der Länder sicher zu Recht ein fließender Übergang von Beratung zum Lobbying bescheinigt wurde [4]. Vielmehr wäre im Sinne der Volkswirtschaft der transparente Nachweis zu erbringen, dass die Ausschreibung zumindest rechnerisch günstiger ist. Die Risikoabwägung der Berlinerinnen und Berliner, ob sie nach den Erfahrungen mit der Privatisierung des Berliner Wassers noch einmal eine Privatisierung im Bereich der Daseinsvorsorge wagen sollen, wäre dann – dem Vorschlag der Privatisierungsbremse aus dem Positionspapier „Berlin – Stadt des Aufstiegs“ folgend – in einer Volksabstimmung zur Entscheidung vorzulegen. Ziel der politischen Arbeit bis dorthin könnt sein, für so eine Abstimmung eine attraktive und realisierbare Alternative vorzubereiten.

Neue Probleme, statt die alten zu lösen

Neben den frappierenden Ähnlichkeiten mit Großbritannien kommen im Fall der Privatisierung der S-Bahn per Ausschreibung zusätzliche technisch-organisatorische Probleme in der Realisierung hinzu: Ein neuer Betreiber benötigt Wagenmaterial, das zeitnah kaum zu beschaffen ist. Das Terminrisiko „Start 2017“ kann daher zu hohen Bieterentschädigungen führen. Ein neuer Betreiber benötigt auch Infrastruktur: für Ein-und Ausfahrten, für die Werkstätten, für die Nachtabstellung. Diese Infrastruktur besitzt die DB Netz AG. Man müsste das sehr teuer abkaufen oder von ihr mieten. Der Punkt belastet durch seine Unsicherheit auch die Ausschreibung. Große Bieterentschädigungen drohen, entsprechende Beträge müssen einkalkuliert werden. Auch die Kosten für die Synergieverluste wurden noch nicht ermittelt, sie werden über den Vergabezeitraum von 30 Jahren in die Milliarden Euro gehen [5]. Es wird eine übergeordnete Aufsicht und eine Gerichtsbarkeit benötigt, es werden enorme Schnittstellenverluste entstehen, die durch wachsende technische Unterschiede in den 30 Jahren immer weiter ansteigen werden Die Schnittstellenprobleme werden zu einem Verlust an erbrachter Leistung führen, die die Fahrgäste zu spüren bekommen werden.

Zusammenfasend kann prognostiziert werden, dass sich zahlreiche neue Probleme ergeben, ohne dass die alten im Ansatz gelöst werden. Neue Wagen werden dringend benötigt, es droht eine zyklische Krise, da auch das derzeit eingesetzte Wagenmaterial zahlenmäßig bereits jetzt nicht ausreichend und teilweise deutlich überaltert ist. Es wird in drei bis fünf Jahren wieder einen Revisionsberg verursachen. Wenn die Teilausschreibung fortgesetzt wird, wird das bei deutlich schlechteren Leistungen viel mehr Steuergeld kosten, als ein Betrieb in öffentlicher Hand wie etwa bei der BVG. Es ist zu hoffen, dass die irrwitzige Privatisierung der S-Bahn Berlin noch rechtzeitig gestoppt werden kann.

***

  • [1] aus: Antrag 23/I/2012, KDV Mitte, www.spd-berlin.de/w/files/spd-parteitage/2012-06-09-beschluesse.pdf.
  • [2] aus: Konzept der SPD-Bundestagsfraktion: Mehr Verkehr auf die Schiene – Eine neue Netzstrategie für die Eisenbahn vom  26.02.2013, www.spdfraktion.de/sites/default/files/konzept_schiene.pdf.
  • [3] http://www.publications.parliament.uk/pa/cm201012/cmselect/cmtreasy/1146/1146.pdf
    “31. Analysis undertaken by the Committee’s Specialist Adviser suggest that, all else being equal, paying off a PFI debt of £1bn may cost the same as paying off government debt of £1.7bn. This would mean that a 70 percent increase in investment could be achieved for the same long term cost if government funding were used instead of private finance. An alternative way of expressing this is that the cost of paying off a PFI debt would be over 40 percent cheaper if government funding were used. The current higher cost of finance means there may be a significant opportunity cost from using PFI.”.
  • [4] Gemeinsamer Erfahrungsbericht zur Wirtschaftlichkeit von ÖPP-Projekten, Herausgegeben von den Präsidentinnen und Präsidenten der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder, www.orh.bayern.de/files/ORH/Aufgaben/Zusammenarbeit/Bund%20und%20Laender/Gemeinsamer%20Erfahrungsbericht%20OEPP-Projekte.pdf.
  • [5] Es gibt im PRIMON-Gutachten eine Eigenkapitalwertbetrachtung, die als Orientierung herangezogen werden kann. Dort wird der Eigenkapitalwert der Infrastrukturgesellschaft im Falle einer Trennung 2,7 bis 4,9 Milliarden Euro geringer gegenüber einer Unternehmensform, in der Netz und Betrieb integriert sind.
    „[Zudem] fallen Trennungskosten und Synergieverluste an. Die Ersparnisse im Bereich der Regionalisierungsmittel können diesen Effekt nur zum Teil kompensieren, sodass sich dieser für den Haushalt insgesamt nachteilige Effekt ergibt.“ Quelle: Booz Allen Hamilton, Privatisierungsvarianten der Deutschen Bahn AG „mit und ohne Netz“, Januar 2006, Teilweise entschwärzte Fassung vom 1. März 2006, Seite 40 www.deinebahn.de/download/PRIMON_Langfassung_060301.pdf.