Inhaltsverzeichnis
- Fahrgastverband fordert zügigen Abschluss des Verfahrens – oder Abbruch
- Für zusätzliche Technik fehlt der Platz – und die Züge würden schwerer
- S-Bahn-Züge könnten schneller beschleunigen und häufiger fahren
- Schon zu DDR-Zeiten dachten Experten über eine Erhöhung der Spannung nach
Noch bevor neue Züge kommen, muss ein Teil der Altflotte ausgemustert werden. Hinter den Kulissen tobt ein weiterer Streit – um die Energieversorgung.
10.02.2025 08:10 Uhr
Bei der S-Bahn verrinnt die Zeit. Das Verfahren zur Beschaffung dringend benötigter neuer Züge zieht sich immer weiter in die Länge. Noch bevor neue Fahrzeuge kommen, droht einem Teil der Altflotte die Ausmusterung. Doch es zeichnet sich nicht nur eine Fahrzeug-, sondern auch eine Energiekrise ab. Experten warnen, dass die Stromversorgung jetzt schon am Limit ist. Wenn nicht bald eine wichtige Entscheidung getroffen wird, laufen Berlin und Brandenburg in eine noch größere Krise hinein.
Es geht um die Zukunft der S-Bahn – des nach der U-Bahn wichtigsten Verkehrsmittels der Hauptstadtregion. Für zwei der drei Teilnetze, elf S-Bahn-Linien, werden neue Züge gebraucht. Vor mehr als vier Jahren wurde damit begonnen, die Beschaffung in die Wege zu leiten. Mit dem größten Vergabeverfahren der Berliner Verkehrsgeschichte werden Unternehmen gesucht, die mehr als 1400 neue S-Bahn-Wagen bauen, sie 15 Jahre fahren und 30 Jahre instand halten. Das Land will die Züge kaufen, wofür derzeit mit 5,6 Milliarden Euro gerechnet wird, und dem Betreiber überlassen.
Fahrgastverband fordert zügigen Abschluss des Verfahrens – oder Abbruch
Doch nun wurde bekannt, dass die beiden Bundesländer die Frist zur Abgabe verbindlicher Angebote erneut verschoben haben – schon zum siebten Mal. Zuletzt hieß es, dass Bewerber ihre Offerten bis zum 20. Februar 2025 einreichen müssen. Jetzt können sie sich bis zum 27. März 2025 Zeit lassen. Damit bestätigte Michael Herden, Sprecher von Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU), einen Bericht der Zeitung nd.Der Tag.
Damit verschiebt sich erneut auch der weitere Zeitplan des großen S-Bahn-Vergabeverfahrens. So soll der Zuschlag nunmehr im dritten Quartal dieses Jahres erteilt werden, teilte der Senat mit. Die Betriebsaufnahme im Teilnetz Stadtbahn verschiebt sich auf den 17. Februar 2031, im Teilnetz Nord-Süd auf den 28. April 2031, so Herden.
„Mit jeder Verzögerung wird der schon jetzt angerichtete Scherbenhaufen nur noch größer“, warnen Christfried Tschepe und Matthias Gibtner vom Fahrgastverband IGEB. „Alter und Zustand des derzeitigen Fahrzeugparks der S-Bahn lassen ohne zügigen Ersatz durch neue Fahrzeuge eine dramatische Entwicklung befürchten – wie 2009.“ Die Länder nähmen die nächste Fahrzeugkrise fahrlässig in Kauf, warnt die Fahrgastlobby. Sie fordert, das Vergabeverfahren zügig abzuschließen oder vorzeitig abzubrechen.
Das Problem: Die neuen Züge kommen zu spät, um die Lücke schließen zu können, die zuvor in der S-Bahn-Flotte entstanden sein wird. Nach jetzigem Stand wird sie sich 2029 auftun, dann rasch immer größer werden und bis 2032 auf 65 Zwei-Wagen-Einheiten wachsen, die dann fehlen. Die Lücke entsteht, weil die ältere S-Bahn-Baureihe 480 abgestellt werden soll. Zwar will die S-Bahn prüfen lassen, ob die Altzüge für einen längeren Einsatz ertüchtigt werden könnten. Aber das soll erst Ende 2025 klar sein.
Der Grund: Derzeit sind die Werkstätten mit der Ertüchtigung der S-Bahn-Baureihe 481 ausgelastet. Um entscheiden zu können, ob die 480er länger als geplant betrieben werden können, müssten die stählernen Wagenkästen intensiv untersucht werden – insbesondere auf Korrosion, erläutert ein S-Bahner. „Das erfordert ein Öffnen mehrerer Fahrzeuge.“ Außerdem wären viele Teile auf Beschaffbarkeit hin zu prüfen.
Für zusätzliche Technik fehlt der Platz – und die Züge würden schwerer
Warum wurde bei der S-Bahn-Ausschreibung die Abgabefrist nun erneut verlängert? „Grund für die Fristverschiebung sind noch andauernde Abstimmungen mit dem Land Brandenburg“, erklärt Behördensprecher Herden. Nicht nur der Fahrgastverband IGEB vermutet, dass es dabei um ein ganz bestimmtes Thema geht: Wie berichtet, setzt man sich in Potsdam dafür ein, die Spannung der S-Bahn von 750 auf 1500 Volt zu erhöhen.
„Die Diskussion um die Vor- und Nachteile der niedrigen und der höheren Spannung wird seit Jahren geführt. Sie schien längst vertagt auf die nächste Generation der S-Bahn-Fahrzeuge“, mahnen Tschepe und Gibtner. „Dass das Thema nun erneut diskutiert wird und ernsthaft überlegt wird, es in das aktuelle Ausschreibungsverfahren zu integrieren, verstärkt den Verdacht, dass Berlin und Brandenburg damit überfordert sind und über immer neue ‚Sachargumente‘ die Ausschreibung bewusst verzögern.“
Bei der S-Bahn Berlin, einem Unternehmen der Deutschen Bahn (DB), und in der Fahrzeugindustrie will sich wegen des laufenden Verfahrens niemand offiziell äußern. Doch wer sich dort umhört, vernimmt viel Kritik an dem Vorstoß aus Brandenburg. Wenn die neuen S-Bahnen für eine weitere Spannung ausgelegt werden müssen, wären die bisherigen Planungen umfangreich zu ändern – was nicht nur weitere Zeit erfordert, sondern die Millionenkosten für die Beteiligung am Verfahren noch mehr erhöhen würde.
„Um die Technik unterbringen zu können, müsste hinter den Führerständen Platz geschaffen werden – zulasten der Mehrzweckabteile“, erklärt ein Insider. Die Folge wäre, dass die Züge dann weniger Fahrgäste befördern könnten. Weil die Anforderungen immer weiter gestiegen sind, sei der Platz für weitere Technik auf, in und unter den Zügen jetzt schon ausgereizt. Das Zuggewicht würde steigen, der Strombedarf größer.
Dazu gibt es in der Debatte um die Fahrspannung auch Gegenpositionen. Sicher, in der Tat müsste ein zusätzlicher Umrichter eingebaut werden, bestätigt ein Insider. Aber vielleicht gehe das auch „anders als im Z1-Format von Herrn Zuse“, eines urzeitlichen Computers. Richtig sei auch, dass der Stromverbrauch etwas steigen würde, weil die Technik nicht beide Spannungen gleich gut verwertet und es eine Präferenz geben muss.
Ein Zug der S3 hält in Köpenick. Eine Studie von DB Energie zeigt: Fünf Unterwerke, an denen Strom eingespeist wird, könnten zwischen Rummelsburg und Erkner wegfallen, wenn die Spannung auf 1500 Volt verdoppelt wird.Sabine Gudath
„Aber den Übergang für eine zukunftsfähige S-Bahn schafft man nicht anders“, mahnt der Experte. Schon jetzt reiche die Stromversorgung nicht mehr aus. Die neuesten Züge der Baureihe 483/484 schlucken zu viel Strom – beziehungsweise mehr Strom, als die Anlagen hergeben. „Dann knallen gelegentlich die Schutzschalter“, berichtete er. Seit die 483/484er-Flotte komplett ist, herrsche „Ausnahmezustand“. Wenn sich nichts ändere, werde das System bald an seine Grenzen kommen, lautet die Warnung.
Schon das jetzige Angebot könne nur mit Ach und Krach gefahren werden. Für die Zukunft sieht der Insider erst recht schwarz. Auf der Basis der jetzigen Technik wäre es illusorisch, die Planungen für neue S-Bahn-Strecken, dichtere Fahrpläne sowie andere Angebotsverbesserungen im Sinne der Fahrgäste voranzutreiben. „Mehr Fahrzeuge, und seien es nur die jetzt bereits im Verfahren befindlichen Züge, brauchen Strom, der in der benötigten Menge mit den bestehenden Anlagen nicht bereitgestellt werden kann.“
S-Bahn-Züge könnten schneller beschleunigen und häufiger fahren
Würde die Spannung Schritt für Schritt auf 1500 Volt erhöht, könnten 40 Prozent der jetzigen Bahnstromanlagen entfallen. Das zeigt eine Gesamtnetzstudie von DB Energie, die im vergangenen Oktober fertig wurde. Mit höherer Spannung könnten die Züge schneller beschleunigen, pro Abschnitt wären mehr Fahrten als bisher stabil möglich. Komforterhöhungen wie eine Klimatisierung wären ebenfalls kein Problemthema mehr.
Es wäre ein gewaltiges Unterfangen, die Spannung im gesamten Netz umzustellen. Auch die Kosten wären beachtlich. Wenn alle neuen S-Bahnen von vornherein so vorbereitet werden, dass sie auf 1500 Volt umgerüstet werden können, würde dies 160 Millionen Euro kosten. Wenn die Länder diese Option ziehen würden, kämen rund 150 Millionen Euro hinzu. Die Energiekosten würden um ein Prozent steigen, so die derzeitige Rechnung.
Schon zu DDR-Zeiten dachten Experten über eine Erhöhung der Spannung nach
Noch komplexer würde es jedoch, das bestehende 750-Volt-System fit für die Zukunft zu machen, weiß der Experte. Für das gesamte S-Bahn-Netz wären nicht weniger als 117 neue Bahnstromanlagen nötig – vor allem Unterwerke, in denen Strom eingespeist wird. Allein für deren Bau müsste mehr als eine Milliarde Euro kalkuliert werden. Für die Länder wären zudem hohe Folgekosten absehbar, weil auch Wartungen und Ersatzinvestitionen zu Buche schlagen werden. Nicht zuletzt müssten Baugrundstücke gefunden werden.
Bereits jetzt müssten viele bestehende Anlagen ohnehin ersetzt werden. Wenn man bei 1500 Volt nur einen Teil der Standorte weiterhin braucht, macht das einen Unterschied, sagt der Experte. Er könne verstehen, dass die Fahrzeugindustrie eine Umplanung scheue. Doch so ungewöhnlich sei das Thema Spannungserhöhung nicht: Schon zu DDR-Zeiten sei darüber nachgedacht worden, die S-Bahn künftig mit 1200 Volt zu betreiben.
Bei einem Aspekt sind sich die Kontrahenten allerdings einig: DB Energie habe das brisante Thema zu lange verschleppt, heißt es auf beiden Seiten. Schon seit 2020 würde die Stromversorgung den Ansprüchen nicht mehr genügen. Trotzdem wurden viele Unterwerke abgebaut. Im Kernnetz, das fast den gesamten Ring und die Stadtbahn umfasst, sei die Zahl dieser Anlagen nur noch halb so groß wie 1939. Auch die S-Bahn-Linie S3 nach Erkner sei ein „Mangelgebiet“, schätzt ein anderer Experte ein.
Doch seiner Meinung nach wäre es möglich, die bestehende Stromversorgung auf Vordermann zu bringen. Es sei unstrittig, dass die Zahl der Unterwerke um 30 wachsen müsse, sagt er. Eine Spannungserhöhung wäre aber ein kostspieliges, kompliziertes und riskantes Unternehmen. Gäbe es die Pflicht, die neuen S-Bahnen für zwei Spannungen vorzubereiten, würde dies die Fahrzeugbeschaffung von Anfang an mit zusätzlichen Kosten belasten. Dabei sei jetzt schon damit zu rechnen, dass die Züge teuer werden.
Über die Spannung müsse diskutiert werden, sagt er. Aber jetzt nicht mehr.